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Berlin – 18. Juli 2022
Wie geht es nach dem Auslaufen des 9-Euro-Tickets weiter? Darüber diskutierten Ricarda Lang, Ko-Vorsitzende von Bündnis 90/Grüne, Markus Lewe, Präsident des Deutschen Städtetages, und VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff anlässlich eines Redaktionsgesprächs der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.). Dabei herrschte Einigkeit darüber, dass es zusätzlich zu einer möglichst kurzfristigen Nachfolgeregelung massiver Investitionen in den Ausbau öffentlicher Mobilität und die Qualität des Angebotes bedarf.
Bundesweites Klimaticket für 69 Euro
„Wir brauchen eine Flatrate für Deutschland. Die Entwicklung und Dynamik, die das 9-Euro-Ticket genommen hat, hat mit der bundesweiten Ticketgültigkeit und dem Umstand, dass 48 Prozent der Bürgerinnen und Bürger ein solches Ticket in der Tasche haben, eine Situation geschaffen, hinter der wir nicht mehr zurückgehen können, zumal die Beweggründe – Entlastung der Bürgerinnen und Bürger zu Gunsten einer klimafreundlichen Mobilität – mehr denn je bestehen. Wir schlagen daher ein bundesweit gültiges ÖPNV-Klimaticket für 69 Euro pro Monat als einfache Fahrtberechtigung der 2. Klasse vor“, so der Vorschlag von VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff, der in den Tagen danach ein bemerkenswertes Medienecho finden sollte.
Die durch das 9-Euro-Ticket in Gang gebrachte Diskussion zur Weiterentwicklung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) muss zeitnah in eine Anschlussregelung münden. „Das muss schnell entschieden werden, wir können nicht bis zum Herbst warten“, so Oliver Wolff mit Blick auf den zu erwartenden weiteren Anstieg der Energie- und Lebenshaltungskosten. Möglichkeiten und Grenzen eines bundesweit gültigen ÖPNV-Klimatickets ergeben sich dem VDV-Hauptgeschäftsführer zufolge aus der begleitenden Marktforschung, den Verkaufszahlen sowie weiteren Erkenntnissen. So sei es im Sinne der Verkehrsvermeidung nur bedingt wünschenswert und vor allem von den Unternehmen leistbar, auf eine steuernde Wirkung des Preises zu verzichten. Denn 27 Prozent der Befragten antworteten, sie hätten gar keine Fahrt angetreten, man hat also zum Teil Verkehr induziert. Andererseits hat ein Gutteil der Befragten mit dem bundesweit gültigen Ticket das Auto auch mal stehengelassen. „Ausgehend von der Prämisse, dass die ÖPNV-Tarife der Verkehrsverbünde für das Gros der Fahrgäste weiter attraktiv sein werden, schlagen wir insbesondere für diejenigen, die sich in der Marktforschung als relevante Zielgruppe erwiesen haben – zahlungswillige Autofahrerinnen und -fahrer – ein bundesweit gültiges ÖPNV-Klimaticket vor.“ Ein solches Modell soll zugleich sicherstellen, dass Mehrfahrten, wie sie zurzeit beim 9-Euro-Ticket zu verzeichnen sind, auf einem vertretbaren Maß gehalten werden.
Hinweis:
In einem späteren Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ präzisierte VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff mit Blick auf die Zeitleisten im Entscheidungsprozess für ein Klimaticket, dass zunächst auch eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets in den Monaten September und Oktober denkbar wäre: Die Übergangslösung solle Bürger*innen auch weiterhin entlasten und zeitgleich Bund und Ländern Zeit verschaffen, um ein dauerhaftes Angebot für ein bundesweites Nahverkehrsticket zu beschließen. Der VDV spricht sich dabei für ein Klimaticket für 69 Euro als Nachfolger aus, vor allem aus verkehrspolitischen und wirtschaftlichen Erwägungen. Aus sozialpolitischer Sicht könnte das Klimaticket, zum Beispiel für die Dauer des Krieges, bei 29 oder 39 Euro angesetzt werden.
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Bundesweite Gültigkeit wichtiger Faktor
Nach Einschätzung von Oliver Wolff ist die Branche in der Lage, dieses Klimaticket bereits zum 1. September anzubieten. Voraussetzung dafür ist eine kurzfristige Entscheidung von Bund und Ländern. Sozialpolitisch wünschenswerte Varianten und weitere ergänzende Ausgestaltungen könnten in einem zweiten Schritt für den 1. Januar 2023 vorbereitet werden. Ersten Schätzungen des VDV zufolge zieht ein Klimaticket für 69 Euro Mehraufwendungen von etwa zwei Milliarden Euro im Jahr nach sich, die von Bund und Ländern getragen werden müssen, so Oliver Wolff.
Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang stellte die Errungenschaften des 9-Euro-Tickets heraus, das im Rahmen des Energie-Entlastungspakets von der Bundesregierung für Juni, Juli und August realisiert worden ist: „Das 9-Euro-Ticket ist ein voller Erfolg. Wir sehen, dass das Angebot gut angenommen wird und die Leute Lust haben, den ÖPNV zu nutzen. Zugleich rückt das Ticket den öffentlichen Nahverkehr in das Zentrum der Debatte – und da gehört er auch hin.“ Ein Blick auf die Zahlen gibt der Politikerin recht. Rund 31 Millionen Menschen haben das Ticket im Juni genutzt. Das Reiseaufkommen hat sich gerade im Bahnverkehr im Juni deutlich erhöht, wie eine Sonderauswertung von Mobilfunkdaten des Statistischen Bundesamtes verdeutlicht. Danach lagen die Bewegungen im Schienenverkehr im Schnitt 42 Prozent höher als im Juni 2019. Auch die Zufriedenheitswerte befinden sich auf einem konstant hohen Niveau. Das zeigt eine begleitende Marktforschung, die der VDV und die Deutsche Bahn gemeinsam im Auftrag von Bund und Ländern koordinieren. Danach tragen neben dem Preis auch die einfache Nutzbarkeit sowie die bundesweite Gültigkeit zur großen Beliebtheit bei. Nicht zu vergessen: Der eigentliche Zweck, die finanzielle Entlastung von Millionen Pendlerinnen und Pendlern sowie Gelegenheitsfahrern.
Massive Investitionen in Ausbau und Qualität
Ricarda Lang plädiert ebenfalls für eine Nachfolgeregelung, wollte sich aber noch nicht auf ein konkretes Konzept festlegen: „Über das Modell werden wir in der Koalition beraten, klar ist aber: Es braucht eine Anschlussregelung, die wie vom Bundesverkehrsminister vorgeschlagen möglichst bundeseinheitlich gilt und dabei günstig ist, also auch sozial.“ Um mehr Menschen für Busse und Bahnen zu begeistern und die Leistungsfähigkeit der Systeme zu erhalten, müsse zudem massiv in den Ausbau der Infrastruktur und Qualitätsverbesserungen investiert werden, so die Grünen-Politikerin: „Wir stehen vor der Aufgabe, zwei Ziele gleichzeitig erreichen zu müssen. Wir wollen ein günstiges Ticket und gleichzeitig die Qualität des Angebots verbessern, das heißt in die Infrastruktur investieren.“ Ein „Nacheinander“, also erst Ausbau, dann Preisminderung, wie beim Vorbild Wien, könne man sich angesichts der Klimaschutzziele nicht leisten.
Diese Notwendigkeit hob auch Markus Lewe, Präsident des Deutschen Städtetages, hervor. „Unser Ziel muss es sein, möglichst viele Menschen langfristig zum Umstieg in öffentliche Verkehrsmittel zu bewegen. Nur wenn uns das gelingt, hat das 9-Euro-Ticket aus meiner Sicht einen nachhaltigen Effekt.“ Lewe befürchtet jedoch auch, dass die weiter steigenden Energie- und Personalkosten für Kommunen und Verkehrsunternehmen bald zu einem echten Problem werden: „Wir erleben nicht nur eine Zeitenwende, sondern einen regelrechten Bruch. Meine Sorge ist, dass die Verkehrsunternehmen ihre Leistungen ausdünnen werden. Dann haben wir den ÖPNV noch drei Monate genießen können, aber das war es dann auch.“ Dabei gibt es aus Sicht von Markus Lewe, der zugleich Oberbürgermeister von Münster ist, reichlich Handlungsbedarf: „Gerade im ländlichen Raum benötigen wir neue Konzepte, die viel Geld kosten, zum Beispiel mehr On-Demand-Angebote und Digitalisierung. Wir brauchen eine Balance aus Qualität, Attraktivität und Preis.“
Mit einem stimmigen Gesamtpaket zum dauerhaften Umstieg
Nur durch ein stimmiges Gesamtpaket können nach Meinung der Beteiligten mehr Pendlerinnen und Pendler zum Verzicht auf das Auto bewegt werden. Durch das 9-Euro-Ticket ist zwar eine erste Verlagerungswirkung vom Individualverkehr zum öffentlichen Verkehr zu verzeichnen und das Stauaufkommen hat sich in einigen Städten verringert, noch ist der Rückgang im Straßenverkehr aber moderat. Auch das lässt den Schluss zu, dass mit dem Ticket nicht zuletzt zusätzliche Fahrten unternommen werden. Mit Blick auf die Klimaziele forderte Ricarda Lang: „Eine Anschlussregelung für das 9-Euro-Ticket muss so konzipiert sein, dass die Menschen nicht nur mehr Ausflüge unternehmen, sondern grundsätzlich ihre Nutzung umstellen.“ Man verkaufe sein Auto nicht, weil für drei Monate ein günstiges Ticket angeboten wird. „Dafür sind aus meiner Sicht ein günstiger Preis, eine einfache und bundesweite Gültigkeit sowie die Dauerhaftigkeit des Angebots erforderlich. Außerdem darf die Einführung nicht in Konkurrenz zum notwendigen Ausbau stehen.“ Dem pflichtete Oliver Wolff bei: „Wir brauchen für die Menschen auch in der Qualität des Angebotes eine deutliche Weiterentwicklung. Nur weil der ÖPNV billig ist, kommen die Leute nicht.“ Das habe bereits das ÖPNV-Leistungskostengutachten von Roland Berger eindrucksvoll aufgezeigt.
Für mehr Investitionen in einen attraktiven Nahverkehr ist die Erhöhung der Regionalisierungsmittel erforderlich, darin herrschte Einigkeit bei den Teilnehmern des von Johannes Pennekamp, Leiter des Wirtschaftsressorts der F.A.Z., und der F.A.Z.-Wirtschafts- und Verkehrsredakteurin Corinna Budras moderierten Redaktionsgesprächs. VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff regte darüber hinaus ein Sondervermögen zur Beseitigung des jahrzehntelang aufgelaufenen Sanierungsstaus bei der Infrastruktur an. Gemeinsam mit einer 9-Euro-Nachfolgeregelung soll die Angebots- und Infrastrukturoffensive dazu beitragen, dass der ÖPNV seiner Schlüsselrolle beim Klimaschutz gerecht werden kann und die Menschen in Zukunft noch bereitwilliger auf Busse und Bahnen umsteigen.
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